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Nataliya Schretter: »Ich weiß nicht, ob meine Verwandtschaft in der Ukraine noch am Leben ist« Ausgabe 10 | Mittwoch, 9. März 2022

Die gebürtige Ukrainerin Nataliya Schretter (48) lebt seit fast 20 Jahren in Österreich. Nach Beginn des Krieges in ihrer Heimat hat sie begonnen, Spenden für die Ukraine zu sammeln. Mit den Unterkärntner Nachrichten spricht sie über ihre Gefühle und ihre Verwandten.

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Kam der Krieg in der Ukraine für Sie überraschend?
Der Konflikt dauert mittlerweile schon acht Jahre lang an. Wir haben eigentlich immer damit gerechnet, dass es irgendwann überraschend losgehen kann. Die Frage für uns war eigentlich immer nur, wann und wie die Russen losschlagen werden.

Wie geht es Ihnen, nachdem in Ihrem Heimatland Krieg herrscht?
Die ersten drei Nächte habe ich überhaupt nicht geschlafen, ich habe ständig Nachrichten geschaut und mit meiner Familie telefoniert. Ich hatte vergessen zu essen und trinken. Irgendwann habe ich dann angefangen nachzudenken und mir überlegt, wie ich helfen kann und bei verschiedenen Organisationen nachgefragt und meine Hilfe angeboten. Zeitgleich hat auch die Caritas bei den Menschen aus der Ukraine, die in Kärnten leben, nachgefragt, ob sie helfen wollen, es wurden schließlich auch Dolmetscher und Ortskundige benötigt, um effektiv Hilfe leisten zu können.

Haben Sie viele Verwandte und Bekannte in der Ukraine?
Meine Eltern sind beide schon vor längerer Zeit verstorben. Aber ich habe noch Tanten und Onkels mit ihren Familien in der Ukraine. Und das nicht nur in meiner Heimatstadt Wynohradiw, sondern auch in Kiew. Ich war in der Vergangenheit auch regelmäßig zu Hause, nachdem ich nach Österreich gekommen war, besuchte ich mindestens zwei Mal pro Jahr meine Mutter. Nach ihrem Tod war ich weiterhin regelmäßig, zumindest einmal pro Jahr, in der Ukraine.

Auch in Charkiv habe ich Verwandtschaft. Zu ihnen gibt es derzeit keine Verbindung mehr, ich weiß nicht, wo sie sich jetzt aufhalten und ob sie überhaupt noch am Leben sind.

Wie geht es Ihren Verwandten jetzt? Sind sie in der Ukraine geblieben oder konnten sie fliehen?
Meine Familie ist nach wie vor in der Ukraine. Sie wollen und werden aber auch nicht weggehen. Meine Tante ist bzw. war in der Vorwoche noch immer in Kiew. Ob sie noch dort ist und wie es ihr geht, kann ich nicht sagen, weil ich einfach nicht zu ihr durchkomme. Ein Neffe hat es am zweiten Kriegstag geschafft, aus Kiew zu flüchten. Die anderen Familienmitglieder leben natürlich auch in Angst, einige sind damit beschäftigt, Flüchtlinge in Hotels und Häusern unterzubringen und zu verpflegen.

Eine Flucht aus der Ukraine steht für Ihre Familie derzeit also nicht zur Debatte?
Nein. Es gibt derzeit vier Arten von Flüchtlingen. In den ersten beiden Kriegstagen gab es diejenigen, die mit ihrer gesamten Familie nach Ungarn, Polen oder in die Slowakei geflohen sind.

Ab dem dritten Tag, waren die Grenzen dann für Männer zwischen 18 und 60 Jahren geschlossen. Man muss sich das einmal vorstellen, dass Frauen ihre Männer und Kinder ihre Väter zurücklassen müssen.

Dann gibt es noch die Oligarchen, die auch jetzt noch immer ohne Probleme reisen können, und schließlich gibt es noch die Männer, die bereits jahrelang im Ausland gearbeitet haben, nun ihre Familien nachgeholt haben und dann zurück in die Ukraine gegangen sind, um dort zu kämpfen. Zu Kriegsbeginn gab es viel mehr Kämpfer als überhaupt Waffen vorhanden waren.

»Das größte Problem neben den Bomben sind derzeit die kriminellen Banden«
Nataliya Schretter über die Lage in der Ukraine

Wie ist die Lage in Ihrer Geburtsstadt?
Dramatisch, sehr dramatisch. Das größte Problem neben den Bomben sind die kriminellen Banden, die nun sehen, dass die Männer von den Ortschaften fortgegangen sind und sich dort bereichern wollen und alles stehlen, was nicht niet- und nagelfest ist.

In meiner Stadt hat sich mittlerweile eine Art Bürgerwehr gebildet. Es patrouillieren ständig 20 bis 50 Autos durch die Straßen, um die Ordnung aufrecht zu erhalten und ihre Familien zu schützen.

Ein großes Problem sind auch russische Sympathisanten, die Häuser in den Städten markieren, damit die Flugzeuge sehen, welche Gebäude bombardiert werden sollen. Und natürlich sind auch die russischen Soldaten eine große Gefahr. Ich habe von meinem Bruder gehört, das die russischen Soldaten oft auf alles schießen, was sich bewegt, auch auf Zivilisten, wenn ihnen diese über den Weg laufen. Was kommt als nächstes, die Atombombe?

Fürchten Sie einen Atomschlag der Russen?
Ich glaube, ein Atomkrieg wäre dem russischen Präsidenten Wladimir Putin völlig egal. Ich glaube, der Mann ist schwer krank und ihm ist alles egal, er denkt nicht mehr normal. Das ist auch die Einschätzung von Ärzten und Historikern aus der Ukraine. Er ist dadurch natürlich sehr gefährlich. Aber wir werden bis zum letzten Mann kämpfen.

Mir tut es menschlich auch irrsinnig leid für die russische Bevölkerung, die nun wegen der Sanktionen und des Krieges leiden muss und nichts dafür kann. Ich habe auch in Russland zahlreiche Freunde.

Sie haben sich dazu entschlossen, Hilfsgüter zu sammeln, hauptsächlich für Soldaten. Warum das?
Ich arbeite nicht alleine, sondern mit Iryna Fellner zusammen. Sie kommt auch aus der Ukraine und ist Lehrerin am BORG Wolfsberg. Sie kümmert sich um die Organisation von Hilfsgütern mit Caritas, Stadtgemeinde, der ukrainischen Botschaft in Wien. Außerdem versucht sie, Unterkünfte für Flüchtlinge zu bekommen.

Warum ich für die Soldaten sammle, ist einfach erklärt. Für die zivilen Flüchtlinge gibt es viele Organisationen und Einrichtungen, die Hilfe leisten. Sie bekommen Unterstützung. Zum Beispiel werden die Menschen, die in Kiew geblieben sind, von der Caritas und anderen Organisationen versorgt. Für die Soldaten gibt es das nicht. Dabei sind die Soldaten die ersten, die Unterstützung benötigen, denn wenn wir unseren Kämpfern nicht helfen, werden die Zivilisten bald keine Hilfe mehr benötigen, denn dann gibt es nichts mehr.

Welche Waren werden benötigt?
Alles, was Soldaten brauchen, Verbandsmaterial, Schmerzmedikamente, warme Wäsche, Unterwäsche, Socken, Handschuhe, aber auch Taschenlampen, Ferngläser, Nachtsichtgeräte.

Wenn man helfen will, wo kann man Spenden abgeben?
Geldspenden können bei der Firma meines Mannes, der Firma »secom edv services gmbh« in St. Stefan, abgegeben werden. Sachspenden beim Bauhof in Wolfsberg.

»Wladimir Putin ist natürlich sehr gefährlich. Aber wir werden bis zum letzten Mann kämpfen«
Dieselbe über den russischen Präsidenten

Wie geht es mit dem Sammeln voran?
Sehr gut. Ständig klingelt mein Telefon und die Menschen fragen, wo sie Spenden abgeben können. Ich bin überwältigt, wie hilfsbereit die Lavanttaler sind, damit habe ich nicht gerechnet. Es gibt auch viele, die Geld spenden wollen oder bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen. Am Donnerstag der Vorwoche wurden bereits zwei Lkw von Walter Knauder von »trade for you« mit 239 Schachteln Hilfsgüter  an die Grenze geschickt.

Ich möchte mich bei allen Helfern und Spendern bedanken. Es ist unglaublich schön, wenn ich einen Hilfeaufruf auf Facebook schreibe, dass sich sofort Leute melden. Ich weiß nicht, woher diese Hilfsbereitschaft kommt. Ich sage nur eins, es gibt einen Gott, und wahrscheinlich er liebt mich. Anders kann ich es nicht sagen …

Wie funktioniert der Grenzübertritt bei den Hilfslieferungen?
Das ist alles eine sehr schwierige und vor allem bürokratische Angelegenheit. Es muss alles ganz genau beschriftet und aufgelistet werden. Dann geht es bis nach Tiszabecs in Ungarn. Dort werden die Güter vom Verein »Mütter aus Wynohradiw« abgeholt und in meine Geburtsstadt – sie liegt ja nur 20 Kilometer von der ungarischen Grenze entfernt – gebracht.  Ich bzw. der Lkw dürfen die Grenze nicht überschreiten.

// Zur Person
Nataliya Schretter wurde 1974 in Wynohradiw (UKR) geboren. 2003 ist die Musiklehrerin nach Österreich gekommen, im Jahr 2015 zog sie mit ihrem Mann nach Wolfsberg. Schretter betreibt eine private Klavierschule und ist Chorleiterin des Singkreises Seltenheim in Klagenfurt.

 

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