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»Keineswegs eine Schockwirkung«: So erlebten St. Pauler Schüler den Auftakt des Ersten WeltkriegsAusgabe 26 | Mittwoch, 26. Juni 2024

Franz Spöcklberger, Leiter der Schulbibliothek des Stiftsgymnasiums St. Paul, entdeckte im Jahresbericht 1963/1964 den Aufsatz eines früheren Schülers. Der schildert, wie er den Tag des Attentats von Sarajevo vor nunmehr 110 Jahren erlebte. Ein Zeitdokument.

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Unterkärntner Nachrichten Redakteur Horst Kakl Von Horst Kakl kaklno@spamunterkaerntner.at
Britische Soldaten in einem eroberten deutschen Schützengraben in Frankreich, November 1917. Im Graben steckt ein englischer Mark-IV-Panzer. Dreieineinhalb Jahre zuvor – vor genau 110 Jahren – wurde das Attentat von Sarajevo verübt. Foto: John Warwick Brooke

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St. Paul. Vor 110 Jahren, am 28. Juni 1914, wurde das Attentat von Sarajevo verübt: Erzherzog Franz Ferdinand, der Thronfolger Österreich-Ungarns, und seine Ehefrau Sophie Chotek wurden von Gavrilo Princip, einem Mitglied der serbisch-nationalistischen Bewegung »Junges Bosnien«, erschossen. Einen Monat später, am 28. Juli, begann der Erste Weltkrieg, der bis zu seinem Ende im November 1918 rund 17 Millionen Todesopfer forderte. Die Verluste Österreich-Ungarns beliefen sich auf etwa 1,46 Millionen militärische Tote. Anders ausgedrückt: 16 Prozent der Soldaten kamen um.

In die Frage, wie die Lavanttaler Jugend den Kriegsausbruch erlebte, gibt ein Fund von Franz Spöcklberger, Lateinlehrer und Leiter der Schulbibliothek des Stiftsgymnasiums St. Paul, Einblick. Er entdeckte im Jahresbericht 1963/1964 des Stiftsgymnasiums einen Aufsatz von Eugen Studniczka, einem späteren Beamten der Österreichischen Nationalbibliothek, der 1914 die St. Pauler Schule besucht hatte. Der Titel: »Der 28. Juni 1914 – Erinnerungsgedanken an einen Katastrophentag von weltweiter Daseinsveränderung«. Spöcklberger: »Der sehr gut verfasste Text wirft ein Licht in die Vergangenheit einer bedeutenden Kärntner Bildungsinstitution.«

»Dauerpassion« der Menschheit
1964, 50 Jahre nach den Ereignissen, beschrieb Studniczka, was sich an jenem Tag im Stiftsgymnasium zutrug. Und er bedauerte, dass der Anschlag die »Menschheit in eine Dauerpassion drängte und leider auch eine globale, friedliche Entspannung in Frage stellt« – angesichts der Drohung der »atomaren Massenvernichtung«, die in den folgenden Jahrzehnten abebbte – und heute wieder aktueller ist denn je.

Laut Studniczka war der 28. Juli 1914 ein »überschäumend schöner Frühsommertag«, der für ihn und seine Schulkameraden im Zeichen der erfolgreich abgeschlossenen siebenten Klasse stand: »Es dachte wohl niemand im entferntesten daran, dass innerhalb weniger Stunden eines einzigen Tages mit eruptiver Metamorphose unsere ungestüm sorglose Jugend schlagartig ein Ende finden sollte« – und der unfreiwillige Abschied von St. Paul bevorstand.

»Die Schlafsaalruhe wurde durch ein unvorhergesehenes Ereignis unterbrochen«
Eugen Studniczka in seinem Aufsatz

Nach heutigen Gesichtspunkten etwas befremdlich, damals ganz normal, übten sich die Schüler der siebenten und achten Klassen am Johannesberg – im Zuge der vormilitärischen Ausbildung – im Scharfschießen. Die Siegerehrung fand danach im Gasthof Johannesmesner statt – »in euphoristischer Hochstimmung« und »feuchtfröhlich«, wie Studniczka schreibt.  

»Lähmendes Entsetzen«
Am Heimweg etwas ausgenüchtert, »wurde in später Abendstunde die streng eingehaltene Schlafsaalruhe durch ein unvorhergesehenes Ereignis unterbrochen«: Der damalige Gymnasialdirektor und Stockpräfekt, der spätere Abt Richard Strelli weckte die Schüler, um ihnen »in prägnanter Form Kunde von dem Drama in Sarajewo zu überbringen, eine Hiobsbotschaft, die gemäß der damaligen Fernmelde-Vermittlung mit großer Verspätung vom Bahntelegraphen empfangen, im Markt Verbreitung fand und überall lähmendes Entsetzen auslöste«.

Doch auf die Zöglinge hatte die Nachricht »keineswegs eine Schockwirkung«: Sie glaubten, »Zeugen einer heranbrechenden großen Zeit und vielleicht als Träger einer heroischen Einsatzbewährung« ausersehen zu sein. 50 Jahre später bezeichnete der Autor das so: eine »den Ernst der Situation völlig verkennende Einstellung«.

Bibliotheksleiter Spöcklberger: »Sie gehen dann ab in die Ferien, um im September zurückzukehren, wo viele von ihnen alsbald die Einberufung erwartet.« Denn trotz »patriotischer Siegesstimmung« gab es nun Grund, »über die weitere Zukunft in unseren Reihen nachzudenken«, so Studniczka weiter. Es folgten die »schlecht und recht bestandene« Kriegsmatura, der Abschied – und die ersten Gefallenen der Klasse.

Ob auch der spätere Beamte einrücken musste, lässt sich aus dem Text nicht erschließen – er überlebte aber beide Weltkriege. 1964 berichtete er von »einer unwiederbringlich verlorenen Jugend« und wünschte »denen, die heute die Schulbank drücken, vom ganzen Herzen, dass eine gütige Fügung sie in aller Zukunft vor gleichem Missgeschick bewahre«.

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